Der Heidelberger Physiologe und Sozialmediziner Prof. Dr. Dr. Hans Schaefer (1906-2000)
bezeichnete Sebastian Kneipp als „…Wegbereiter einer kommenden Medizin, Leitbild für
eine gesundheitsbewusst lebende Gesellschaft.“
Nun haben sich die Sichtweise und die Bedeutung der Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“
im Laufe der Zeit immer wieder geändert. In den letzten Jahren hat das salutogenetische
Gesundheitsmodell zunehmend an Bedeutung gewonnen, auch wenn die derzeitige
Ausrichtung der Medizin noch überwiegend pathogenetischer Natur ist.
Bei der Pathogenese ist die Sicht- und Denkweise von der Krankheit her bestimmt. Dem
gemäß lautet hier die zentrale Frage: Was macht krank und wie können Krankheiten bekämpft
werden?
Salutogenese
Im salutogenetischen Gesundheitsmodell (lat. von „salus“ = Unversehrtheit, Gesundheit,
Heil, Glück und griech. génesis = Entstehung) steht die Frage nach den Faktoren, die
Gesundheit erhalten bzw. immer wieder herstellen, im Vordergrund.
Im herkömmlichen Verständnis wird Gesundheit als der Normalzustand und Krankheit als
Störung dieses Normalzustandes angesehen. Einer amerikanischen Studie (Alameda County
Studie) zufolge befindet sich aber etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung im Zustand
einer Krankheit. Nur 29% hatten keine Beschwerden, 28% hatten ein Krankheitssymptom und
43% mindestens eine chronische Erkrankung oder Behinderung. Es ist erstaunlich, dass trotz
einer hoch entwickelten Medizin, bestem Nahrungsangebot und guten hygienischen
Verhältnissen in den westlichen Industrieländern ein so großer Teil der Bevölkerung als„nicht gesund“ eingestuft wird. Dieser Studie zufolge stellt also nicht die Krankheit eine
Abweichung von der Norm dar, sondern die Gesundheit.
In dem von dem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923-
1994) begründeten salutogenetischen Gesundheitsmodell gibt es keine klare Grenzziehung
zwischen Gesundheit und Krankheit. Gesundheit und Krankheit werden als Pole eines
Kontinuums verstanden. Jeder Mensch trägt also gleichzeitig gesunde und kranke Anteile in
sich. Der gesundheitliche Zustand eines Individuums ist also von der Distanz zu den
Extrempositionen bestimmt. Antonovsky meinte hierzu: „Wir sind alle sterblich. Ebenso sind
wir alle, solange noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß
gesund.“(1)
Für Antonovsky waren besonders die Faktoren von Bedeutung, die dazu beitragen, die
Position eines Individuums im Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung auf den
positiven Pol hin zu verändern. Welche Einflüsse sind es also, die einen Menschen - trotz
aller Gefährdungen und Belastungen - gesund bleiben, bzw. gesund werden lassen? Ausgelöst
wurde diese Fragestellung bei ihm durch die Untersuchung einer Gruppe von Frauen, die die
körperlichen sowie psychischen Extrembelastungen eines nationalsozialistischen
Konzentrationslagers durchlebt hatten. Trotz der ungeheuren Belastungen konnten 29% der
untersuchten Frauen als gesund eingestuft werden. Welche Ressourcen und Widerstandskräfte
(„generalized resistance resources“, GRR) sind es, die Menschen helfen, mit extremen aber
auch alltäglichen Belastungen fertig zu werden?
Sense of Coherence (Kohärenzgefühl)
Der SOC wird im Deutschen meist als Kohärenzgefühl, Kohärenzsinn oder auch als
Kohärenzempfinden bezeichnet.
Das Kohärenzgefühl ist eine Grundorientierung, eine Art geistig-seelischer Grundeinstellung,
die bestimmt, wie belastende Situationen wahrgenommen, verarbeitet und beantwortet
werden.
„Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man
ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im
Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert,
vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den
Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; diese Anforderungen
Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“(2)
Nach Antonovsky setzt sich der SOC also aus drei Komponenten zusammen:
Verstehbarkeit (comprehensibility)
Ereignisse des Lebens sind strukturiert und verstehbar.
Handhabbarkeit /Bewältigbarkeit (manageability)
Es gibt Ressourcen, um den Anforderungen des Lebens zu begegnen.
Sinnhaftigkeit/Bedeutsamkeit (meaningfulness)
Anforderungen werden als Herausforderungen verstanden, in die Energie zu investieren
sinnvoll und lohnenswert ist.
Menschen mit einem ausgeprägten SOC sind demnach besser in der Lage, die Belastungen
und Herausforderungen des Lebens adäquat zu bewältigen! Damit stellt der SOC einen
entscheidenden Faktor für den Erhalt oder die Wiederherstellung von Gesundheit dar.
Es ist dringend geboten, die Sichtweise von der bisher dominierenden Pathogenese hin zu
einer verstärkt salutogenetischen Perspektive zu verlagern. Begründet ist dies durch
veränderte Lebensbedingungen und den damit einhergehenden Wandel der
Erkrankungsrisiken. Waren zu Kneipps Zeiten noch die Infektionskrankheiten die Geißel der
Menschheit, so sind heute an ihre Stelle (zumindest in den westlichen Industrieländern)
chronische Erkrankungen und psychische Störungen getreten.
Veränderte Lebensbedingungen mit ihren Auswirkungen auf das soziale Miteinander, auf das
Gesundheitssystem und nicht zuletzt auch auf die Volkswirtschaft erfordern neue, adäquate
Konzepte. Dies gilt nicht nur für die kurative Medizin, sondern im besonderen Maße auch für
die Gesundheitsvorsorge. Würde Salutogenese in Verbindung mit anderen, ähnlich gelagerten
Gesundheitsmodellen an Einfluss gewinnen, dann würde dies nicht nur einen Wechsel der
Perspektive in der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit bedeuten, sondern sogar einem
Paradigmenwechsel gleich kommen. Dies hätte weit reichende Auswirkungen für
Gesundheitsvorsorge und Therapie und könnte dadurch zu einem neuen, gleichgewichtigen
Verhältnis zwischen Therapeut/Berater und Patient/Klient führen.
Ist der Wechsel von der Pathogenese hin zu einer stärker salutogenetischen Perspektive
tatsächlich eine so gänzlich neue Sichtweise? Oder lassen sich salutogenetische Ansätze etwa
bereits in dem von Sebastian Kneipp (1821-1897) begründeten Gesundheitskonzept finden?
Von der Gesundheitserziehung zur Salutogenese
Klassische Gesundheitserziehung
In der klassischen Form der „Gesundheitserziehung“, wie sie auch von Kneipp praktiziert
wurde, stehen die Risikofaktoren und deren gesundheitsgefährdendes Potential im
Vordergrund. Sie ist also krankheitsorientiert und damit der pathogenetischen Denkweise
zuzuordnen. Ihr wesentliches Merkmal ist die Furcht vor der Krankheit und daraus ergibt sich
die Motivation zu Verhaltensänderungen.
Die Angst vor dem Verlust der Gesundheit mit den damit verbundenen wirtschaftlichen
Einbußen, die Furcht vor Siechtum und Schmerz oder auch die moralische Verpflichtung zur
Gesunderhaltung aus sozialen, gesellschaftlichen oder religiösen Gründen wurden und werden
häufig auch heute noch als Argumente für einen gesunden Lebenswandel bemüht.
Nun hat sich aber eines sehr deutlich gezeigt: Weder die angstmotivierte Erziehung noch der
reale oder nur befürchtete Leidensdruck sind wirksame und nachhaltige Methoden für einen
gesundheitsförderlichen Lebensstil. Zu Lebzeiten Kneipps und unter Berücksichtigung des
zeitgeschichtlichen Hintergrundes im 19. Jahrhundert ist diese Form der„Gesundheitserziehung“ verständlich, in der heutigen Zeit aber ist sie obsolet.
Das zeitgemäße Kneippsche Gesundheitskonzept
Auf den einfachsten Nenner gebracht lässt sich das Kneippsche Gesundheitskonzept als die„Lehre vom gesunden Leben und naturgemäßen Heilen“ darstellen. Das Kneippsche
Konzept ist also nicht nur ein klassisches Naturheilverfahren, sondern im gleichen Maße eine
Anleitung zu einem gesundheitsbewussten Lebensstil. Es geht nicht nur um die Vermeidung
oder Ausschaltung schädigender Noxen, sondern vor allem um das Stärken der
Widerstandskräfte und das Erkennen und Nutzen gesundheitsfördernder Ressourcen. Dadurch
können individuelle Strategien entwickelt werden, um den Anforderungen des Lebens
adäquat zu begegnen und um ein persönlich bestimmtes Optimum an Lebensqualität zu
erreichen.
„Die gesunden Fünf“
Das inhaltliche Gerüst des Kneippschen Gesundheitskonzeptes basiert auf fünf Elementen
(früher oft als „Säulen“ bezeichnet):
Wasser/Hydrotherapie
Bewegung/Bewegungstherapie
Essen u. Trinken/Ernährungstherapie
Pflanzen/Phytotherapie
Lebensordnung/Ordnungstherapie
Die fünf in sich vernetzten Elemente des Kneippschen Konzeptes sind die Grundlagen für ein
komplexes, klassisches Naturheilverfahren. Im gleichen Maße können sie aber auch Basis und
Orientierung für eine gesundheitsbewusste Lebensführung sein.
Das klassische Naturheilverfahren oder die „Physiotherapie nach Kneipp“, wie sie von Dr.
Kaiser bezeichnet wurde, hat den Schwerpunkt in der Prävention, der kurativen Medizin und
Rehabilitation hat. Dagegen ist die Gesundheitsförderung vorrangig eine Aufgabe der
Pädagogik und somit ein weites Betätigungsfeld für Gesundheitspädagogen. Die
nachfolgenden Aussagen beziehen sich auf das Kneippsche Konzept als Möglichkeit einer
gesundheitsförderlichen, salutogenetisch orientierten Lebensweise.
Kneipp und Salutogenese
Die Komplexität des Kneippschen Gesundheitskonzeptes ermöglicht den Zugang zu den
verschiedenen Ebenen des menschlichen Daseins (körperlich, geistig, seelisch, sozial) und
entspricht somit auch dem Anspruch des Biopsychosozialen Gesundheitsmodells. Dadurch
steht es inhaltlich der Salutogenese näher als das gegenwärtig in der Medizin und
Gesundheitsvorsorge noch vorherrschende pathogenetisch ausgerichtete Biomedizinische
Modell.
Die fünf Elemente des Kneippschen Gesundheitskonzeptes stellen eine ideale Basis zur
Stärkung des Kohärenzgefühls und damit der gesundheitsfördernden Ressourcen dar. Die
Stärkung der körpereigenen Abwehrkräfte war das zentrale Anliegen Kneipps und zieht sich
wie ein roter Faden durch seine Schriften und Vorträge.
Wasser und Bewegung als Gesundheitsfaktoren
Für besonders geeignet hält Kneipp die Elemente Wasser und Bewegung, um sowohl die
körperlichen wie auch die geistig-seelischen Abwehrkräfte zu stärken. (3,4,5)
Auch wenn es über die Wirkmechanismen, die zu einer besseren Abwehrlage, führen noch
keine eindeutigen Erkenntnisse gibt, sind die positiven Wirkungen dieser Anwendungen auf
die körpereigenen Abwehrkräfte durch verschiedene Studien belegt. Auch durch moderat
ausgeübte sportliche Betätigung ist die positive Wirkung auf das Abwehrsystem bekannt. (7)
Für den Menschen als warmblütiges Wesen ist die Aufrechterhaltung einer konstanten
Kerntemperatur von größter physiologischer Bedeutung. Da die Wärmeregulation den
Organsystemen hierarchisch übergeordnet ist, kann durch gezielt eingesetzte Störungen des
hochsensiblen Wärmehaushaltes eine Vielzahl komplexer, überwiegend unspezifischer
Ausgleichs- und Gegenregulationen in Gang gesetzt werden. Durch die Störung der
thermischen Homöostase (Wärmegleichgewicht) ergibt sich die Möglichkeit, auf alle vitalen
Systeme und Funktionen Einfluss zu nehmen: Stoffwechsel, Herz-Kreislaufsystem,
Immunsystem, Hormonsystem, Vegetativum.
Bei den Kneippschen Wasseranwendungen wie Taulaufen, Wassertreten, den Waschungen
und Güssen lassen sich die Temperaturreize so dosieren, dass sie exakt auf die Bedürfnisse
des Betreffenden abgestimmt werden können. Auch dies entspricht den salutogenetischen
Vorstellungen, wonach die individuellen Bedürfnisse das Maß für die Stärke und den
Umfang der gewählten Methoden sind. Die nachfolgenden Zitate Kneipps belegen dies sehr
anschaulich:
„Ich warne vor jedem zu starken und jedem zu häufigen Anwenden des Wassers. Der sonstige
Nutzen des Heilelementes kehrt sich in Schaden, das hoffende Vertrauen des Patienten in
Furcht und Entsetzen.“(5)
„Je gelinder, je schonender – desto besser und wirksamer.“(6)
Ein weiterer Vorteil der Kneippschen Anwendungen besteht darin, dass sie sich mit geringem
Aufwand im Alltag umsetzen lassen. Es steht ein breit gefächertes Instrumentarium zur
Verfügung, das jeden in die Lage versetzt, auch selbst aktiv gestaltend tätig zu werden, ganz
im Sinne der salutogenetischen „manageability“.
Ministressoren erhöhen die Stresstoleranz
Temperaturreize sind natürliche Stressoren und lösen im Organismus vielfältige
Reizantworten aus, wie z. B. die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Werden diese
individuell dosierten Reize wiederholt und trainingsmäßig gesteigert angewendet, reduziert
sich die Cortisolausschüttung. Der Organismus lernt mit Stressoren umzugehen, was zu einer
höheren Stresstoleranz führt. Stressoren sind also nicht zwangsläufig als pathologisch
anzusehen. Gelingt es, Stresssituationen erfolgreich zu bewältigen, können diese sehr wohl
zur Salutogenese beitragen.
Die Kneippschen Anwendungen bleiben in ihrer Wirkung aber nicht nur auf die körperliche
Ebene beschränkt. Sich selbst bewusst Anforderungen wie zum Beispiel Temperaturreizen
auszusetzen, verlangt ein gewisses Maß an Selbstüberwindung und diese wiederholte Überwindung des so genannten „Inneren Schweinehundes“ stärkt die Willenskraft und die
Erkenntnis, Belastungen standhalten zu können.
Leider lassen sich die erwünschten Wirkungen nicht kurzfristig erreichen. So dauert es ca. 4
Monate, bis es durch Wechselduschen oder Saunabaden zu einer nachweisbar höheren
Infektresistenz gegenüber akuten Atemwegserkrankungen kommt.(8) Für diese auf längere
Zeit angelegten Programme ist es ausgesprochen förderlich, wenn durch fachkundige
gesundheitspädagogische Begleitung die Eigenmotivation zusätzlich gestützt wird.
Eine weitere Möglichkeit, die „manageability“ zu fördern, ist die Selbsthilfe mittels
Kneippscher Anwendungen bei Befindlichkeitsstörungen und als flankierende Maßnahmen
bei der Behandlung von Krankheiten.
Positive Erfahrungen mit diesen Anwendungen und das Gefühl, eigeninitiativ etwas zur
Gesundung beitragen zu können, stärkt die Überzeugung für Sinn und Bedeutung
(„meaningfulness“) dieses Handelns und zeigt dass dieses Engagement lohnenswert ist.
Bewegung
„Man kann allerdings verschiedene Mittel empfehlen, aber unter allen ragen besonders zwei
hervor: Erstens Übung der Körperkräfte und zweitens Anwendung des Wassers“, schreibt
S. Kneipp in seinem Buch „So sollt ihr leben!“
Vieles von dem, was für die Kneippschen Wasseranwendungen gilt, kann sinngemäß auch auf
das Element Bewegung übertragen werden. Auch die Bewegung ist als funktionaler Reiz zu
begreifen, den es adäquat zu dosieren gilt.
Die biologische Konzeption des Menschen ist auf Bewegung ausgerichtet, die aber im Alltag
häufig zu kurz kommt. Sportliche Betätigung, sofern sie auf die individuellen Bedürfnisse und
die Leistungsfähigkeit abgestimmt ist, kann diesen Mangel ausgleichen und ist darüber hinaus
geeignet,
die allgemeine Leistungsfähigkeit zu verbessern
Ausdauer, Kraft und Koordination fördern
Stressbelastungen auszugleichen
die Verdauung und den Stoffwechsel anzuregen
Stoffwechselwerte (Blutfette, Blutzucker) günstig zu beeinflussen
das Immunsystem zu stärken
das Herz-Kreislaufsystem zu trainieren
die Gehirndurchblutung zu fördern
Freude zu schenken.
Besonders geeignet sind Ausdauersportarten wie Schwimmen, Wandern, Gehen (Walking),
Radfahren und Gymnastik. Entscheidend ist, dass die sportliche Betätigung dem Ausgleich
dient und Freude bereitet. So können mit sportlichen Erfolgen auch Defizite in anderen
Bereichen (Schule, Beruf) kompensiert und das Selbstwertgefühl gestärkt werden.
Essen und Trinken
„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“ und „Der Mensch ist, was er isst!“ so
heißt es im Sprichwort. Das ist auch sicherlich richtig, denn die Ernährung beeinflusst die
Struktur und Funktion des menschlichen Organismus entscheidend. Physiologisch werden
neben dem Verdauungstrakt folgende Organsysteme bzw. Funktionen durch die Ernährung
besonders beeinflusst:
das Kreislaufsystem (Fließeigenschaften des Blutes, Verhältnisse in den
Kapillargefäßen)
Stoffwechsel
Immunsystem
Von diesen Basisfunktionen Kreislauf, Stoffwechsel und Abwehr werden alle anderen Organe
und Funktionen berührt.(10)
Kneipps Empfehlungen für eine gesunde Ernährung entsprechen weitgehend den heutigen
ernährungswissenschaftlichen Vorstellungen einer vollwertigen Ernährung. Was die heutigen
Ernährungsempfehlungen von den früheren unterscheidet, ist die stärkere Beachtung der
individuellen Stoffwechsellage und Verdauungsleistung.
Nun kommt dem Essen und Trinken über die Versorgung des Organismus mit
lebensnotwendigen Substanzen noch weitere Bedeutung zu:
Essen und Trinken bedeutet auch Genuss und Freude und hat somit großen Anteil an der
Lebensqualität.
Statt Genussmittel, in Bausch und Bogen zu verdammen, auch wenn sie aus
ernährungsphysiologischer Sicht weniger empfehlenswert sind, wäre ein maßvoller und
verantwortungsvoller Umgang mit ihnen durchaus als salutogenetisch einzustufen.
Pflanzen
Kneipp verhalf den seinerzeit wenig geschätzten Heilkräutern wieder zu größerem Ansehen
und auch heute erfreuen sich Heilpflanzen wieder einer überaus großen Beliebtheit.
Heilpflanzen und die daraus gewonnen Präparate stellen einen wichtigen Bestandteil des
Kneippschen Konzeptes dar.
Die Verwendung von Pflanzen oder deren Bestandteilen zur Gesundheitsvorsorge und zur
Behandlung von Krankheiten enthält eine ganze Reihe salutogener Faktoren. Dies gilt im
Besonderen bei der Anwendung von selbst gesammelten Pflanzen. Es beginnt schon mit der
Frage: Welche Pflanze für welchen Zweck geeignet ist. Wie bekommt man die Pflanze? Wo
findet man sie? Wie und wann soll sie geerntet werden? Wie soll sie gelagert, aufbereitet und
in welcher Form soll sie angewendet werden? Der Einsatz von Pflanzen macht es erforderlich,
sich selbst aktiv einzubringen.
Der gesundheitsfördernde Wert im Umgang mit Pflanzen beschränkt jedoch nicht nur auf die
Behebung von Befindlichkeitsstörungen und die Linderung von Symptomen mittels
innerlicher und äußerlicher Anwendung. Pflanzen können das Raumklima verbessern und
tragen als gestalterisches Element zum Wohlbefinden in Wohnräumen bei.
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand in den USA eine neue Therapieform,
die sich „Horticultural therapy“ nannte und die besonders bei Patienten mit psychischen und
gerontologischen Erkrankungen sowie in der Rehabilitation eingesetzt wird. Die
amerikanische Horticultural Therapy Association definiert die HT folgendermaßen: “A
process utilizing plants and horticultural activities to improve social, educational,
psychological and physical adjustment of persons thus improving their body, mind, and spirit.”
In einem chinesischen Sprichwort heißt es: „….und wenn Du ein Leben lang glücklich sein
willst, dann lege einen Garten an.“
„Die Beschäftigung mit Erde und Pflanze kann der Seele eine ähnliche Entlastung und Ruhe
geben wie die Meditation“ erkannte auch schon Hermann Hesse.
Ordnungslehre
Die Ordnungslehre bildet innerhalb des Kneippschen Konzepts das zentrale und verbindende
Element. Es ist aber auch das Element, das sich begrifflich am schwersten fassen lässt, weil es
komplexer als die vier anderen ist. Auch die ersten vier Elemente haben das Potential, auf den
Menschen in seiner Gesamtheit zu wirken, doch steht zumeist die somatische Ebene im
Vordergrund, beim Element Ordnungslehre werden jedoch besonders die seelischen, sozialen
und spirituellen Ebenen des Menschen berührt. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass
weder der Begriff „Ordnungslehre“ wie „Ordnungstherapie“ von Kneipp gebraucht wurde,
obwohl die Schriften Kneipps voll mit Ratschlägen sind, wie das Leben ausgerichtet
(geordnet) sein soll, damit ein größtmöglicher Nutzen für das Individuum, wie auch für die
Allgemeinheit aus diesem Verhalten resultiert.
Die von Kneipp propagierten Verhaltensweisen für eine gesunde Lebensweise haben ihre
Wurzeln in der altgriechischen „Diaita“ und finden sich auch in den mittelalterlichen „res non
naturales“ wieder, wo es darum geht, sechs Lebensbereiche zu ordnen um gesund zu bleiben.
aer (die Qualität der umgebenden Luft hinsichtlich Helligkeit, Temperatur, Feuchte,
Geruch und Reinheit sowie Windverhältnisse und das jahreszeitliche Klima in bestimmten
Gegenden. Außerdem die Qualität von Wohnung und Kleidung.
cibus et potus (Qualität der Speisen und Getränke nach ihren Eigenschaften warm, kalt,
feucht, trocken, nach ihrer vegetabilen oder animalischen Herkunft und nach der
Zubereitungsart. Zeitpunkt und rechte Art der Nahrungsaufnahme [Lob der Mäßigkeit].)
motus et quies (Auswirkung maßvoller oder übermäßiger Bewegung des Körpers oder
einzelner Körperteile bei Arbeit (motus) und Sport (exercitia), sowie deren Kompensation
durch Ruhe. Rhytmisierung des Alltags. Arbeit und Sport unterscheiden sich nur durch die
Freiwilligkeit des Letzteren. Beide bewirken beschleunigte Atmung, schnelleren Puls und
Anregung des Schwitzens.)
somnus et vigilia (die Bedeutung von rechter Zeit und Dauer der Schlaf- und Wachzeiten
für den Ablauf physiologischer Prozesse. Gesundheitsförderliche Gestaltung des Bettes
[Kopfende höher als Fußteil] und richtige Schlafhaltung.)
repletio et evacutio (auch: repletio et inanitio, secreta et excreta. Die Regulierung und
Beobachtung der Körperausscheidungen wie Stuhl und Winde, Urin, Sperma und
Menstruationsblut, Tränenflüssigkeit und Speichel, Auswürfe aus Mund und Nase,
Erbrochenem, Ohrenschmalz. Auf diesem Feld griff man zu Maßnahmen wie Aderlassen und
Schröpfen, Purgieren, Erbrechenlassen, Regulieren des Geschlechtslebens, Waschen, Baden
und Massieren. Häufigkeit und richtiger Zeitpunkt einer bestimmten Maßnahme.)
accidentia animi (auch: affectus animi, motus animi, passiones. Der förderliche bzw.
schädliche Einfluss der sechs Emotionen oder Affekte Zorn (ira), Freude (gaudium s. laetitia),
Angst (angustia), Furcht (timor), Traurigkeit (tristitia) und Scham (verecundia). Der rechte
Umgang mit sich selbst und mit Seinesgleichen. Die Rückwirkung emotionalen Geschehens
auf die körperliche Befindlichkeit. (12)
Stark vereinfacht kann die Kneippsche Lebensordnung auch als das Bemühen gedeutet
werden, die individuell aufbauenden Kräfte für Körper, Seele und Geist zu erkennen und zu
nutzen, um durch eine ausgewogene, weitgehend natürliche Lebensgestaltung ein Optimum
an Lebensqualität in einem sinnerfüllten Leben zu erreichen.
Abschließend kann man Prof. Schaefer nur zustimmen, wenn er Kneipp als Wegbereiter einer
kommenden Medizin bezeichnet, vor allem aber kann er als Leitbild einer
gesundheitsbewusst lebenden Gesellschaft gelten.
(1) Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche
erweiterte Herausgabe von Alexa Franke. Tübingen: dgvt, 1997, S. 23.
(2) (2 )Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. 1997,
S. 36
(3) Kneipp, S.: Meine Wasserkur. 1890, S.21-51
(4) Kneipp, S.: So sollt ihr leben.1893, S. 102-107, 143,
(5) Kneipp, S.: Mein Testament. S.25-35, 57,
(6) Kneipp, S.: Meine Wasserkur. 1890, S.5, S.17
(7) Brenke u. Siems: Beeinflussung der Bildung von Sauerstoff-Radikalen: Neue Aspekte
zur Wirkung physiotherapeutischer Maßnahmen, Klinik für physikalische Medizin
und Rehabilitation der Medizinischen Fakultät (Charité ) Berlin
Uhlenbruck,G., Ledvina I. :Glück, Gesundheit, Sport u. Immunsystem,(KG) 48 (1996)
Nr. 9
Kreutzfeldt A. Albrecht B. Müller K.: Einfluss des Wassertretens nach Kneipp auf die
Immunregulation, PhysMed Rehab Kuror 2003; 13: 208-214
1995Gruber, R., Penz, M., Bieger, P.: Immunologie der Abhärtungsreaktion nach
Hydrotherapie - Sofortreaktion nach einmaligem Kaltreiz. Z. Phys. Rehab. Kur. Med.
6 (1996), S. 72 – 79
(8) Ernst,E. Wirz, P. Pecho L.: Wechselduschen u. Sauna schützen vor Erkältung. Z. Allg.
Med.66, 56-60 8 (1990)
(9) Kühn, G., Bühring, M.: Studie über die Wirkung von Kneipp-Anwendungen auf das
Abwehrsystem bei Krebspatienten. Berliner Gesundheitsakademie für natürliche
Lebens und Heilweise, Kneipp-Verein Berlin e.V., 1995
Kühn, G.: Skizze eines Zwischenberichtes zum Forschungsprojekt Hydrotherapie nach
Kneipp mit Krebspatienten zur Sekundärprävention. Berliner Gesundheitsakademie
für natürliche Lebens- und Heilweise, Kneipp-Verein Berlin e.V.
(10) Kneipp, S.: So sollt ihr leben.1893, S. 37
(11) Brüggemann W. Hrsg.; Anemüller H.: Kneipptherapie. Springer Verlag 1986. S. 147
(12) Quelle: wikipedia. Res naturales